Die ersten Asketen

Ma brachte selbst eine Decke ins Puja-Zimmer, damit Shashanka Mohan sich eine Weile ausruhen konnte. Auf diese fast spielerische Weise führte sie ihn auf den Pfad der Entsagung. Er erwies sich in jeder Hinsicht als ihrer Wahl würdig. Gleichzeitig spielte sich eine weitere Verwandlun gab, von der niemand wußte. Jogesh Rai war einer der stillsten, unauffälligsten Besucher in Shahbagh. Er war Junggeselle und lebte bei seiner Mutter. Nach Shahbagh zog ihn mehr die Musik des Kirtan als die religiösen Feste. Während eines Kirtan geschah es, daß Ma, die sich in einem entrückten Zustand des Bhava befand, ihn zufällig berührte. Das war eine Erfahrung, die sein Leben radikal veränderte. Von nun an kam er, um Ma zu sehen, wenn er auch bescheiden am Rand der Menge stand. Ma hatte ihn jedoch als einen ihrer wenigen mönchischen Schüler ausgewählt. Sie ließ Jogesh Rai durch Bholanath ausrichten, er solle sich für ein Jahr von seinem Dienst beurlauben lassen und an entfernte Orte pilgern, wo niemand ihn kannte. Ein Jahr lang solle er niemandem seine Identität enthüllen. Nur seine Mutter solle er einweihen, bevor er fortginge. Jogesh Rais Freunde und Verwandte waren sehr überrascht, als sie hörten, er sei plötzlich aus Dacca abgereist. Jogesh durfte auch kein Geld mitnehmen, er war also gezwungen, das Leben eines bettelnden Pilgers zu führen. Später sagte er, bis ihm ein Bart gewachsen sei, seine Haarsträhnen sich verfilzt hätten und seine Kleider verschlissen gewesen seien, habe er meistens hungern müssen, weil niemand ihm Almosen gegeben habe. Zudem wußte er nicht, wie man bettelt. Schließlich kam er nach Hardwar, wo Asketen es leichter haben, da diese Stadt dem Streben nach Erlösung geweiht ist. Eines Tages sah er zu seiner Überraschung Ma und viele andere Bekannte die Straße entlang gehen. Niemand erkannte ihn, denn sein Aussehen hatte sich stark verändert. Da er sich nicht zu erkennen geben sollte, hielt er sich fern von ihnen. Er blieb stehen und sah zu, wie die Gruppe weiterging. Nach einer kurzen Strecke machte die Straße eine scharfe Biegung. Als Ma um diese Ecke ging, schaute sie sich nach ihm um. An ihrem Gesicht konnte er lesen, daß sie ihn erkannt hatte.
       Als das Jahr vorüber war, kam Jogesh Rai nach Dacca zurück. Ma  sagte: »Das genügt für den Moment«, er solle nun seinen Dienst wieder antreten. Später kam er nach Siddheshwari und lebte in dem neugegründeten Ashram. Nach Shashanka Mohan war er der erste, der der Welt entsagte, um Ma zu folgen.
       Ma und Bholanath hatten auf Einladung ihrer Freunde und Devotees viele Dörfer und Kleinstädte in der Umgebung besucht. Die Devotees waren also schon daran gewöhnt, daß sie häufiger außerhalb von Dacca waren. In der ersten Aprilwoche des Jahres 1927 verließen Ma und Bholanath Dacca, um die Kumbha Mela in Hardwar zu besuchen. Sie hatten viele Begleiter, darunter Shashanka Mohan und Didi, Rajendra Kushari mit seiner Frau, Matori Pishima, Didima, Dadamashai und Bholanaths jüngster Bruder Jamini Kumar. Es war die erste große Reise, die sie unternahmen.

Über Calcutta und Varanasi gelangten sie nach Hardwar. Nach dem rituellen Bad im heiligen Fluß besuchten sie weitere  Pilgerstätten in der Nachbarschaft: Rishikesh, Lakshmanjhula und Bhimgoda. Auf der Rückreise machten sie auch Halt in Mathura, Vrindavan und Agra.
       Am Vorabend ihrer Abreise von Hardwar forderte Ma Shashanka Mohan und Didi auf, drei Monate dort zu bleiben und Sadhana zu üben. Sie sagte: »Jeder muß seine eigene Arbeit (Sadhana) in Abgeschiedenheit verrichten.« Didi war nicht glücklich über diese großartige Chance. Sie wollte lieber bei Ma sein und ihr dienen. Für Sadhana interessierte sie sich nicht. Shashanka Mohan war ein alter Mann, das Oberhaupt einer weitverzweigten Familie; er war mehr daran gewöhnt, Herr der Lage zu sein und Anweisungen zu erteilen, als eine untergebene Rolle zu spielen. Er erhob jedoch keine Einwände und willigte ein, sich an ihr Kheyala zu halten. Seitdem Shashanka Mohan unmittelbar nach der Kali-Puja die Betreuung des Opferfeuers übernommen hatte, wohnte er in Shahbagh. Einmal am Tage fuhr er in seiner eigenen Kutsche zum Medizinischen College. Auf dem Rückweg verbrachte er einige Zeit in seinem Haus. Er hatte den Komfort des eigenen Heims und seine geselligen Kontakte aufgegeben. Rückblickend wird ganz deutlich, daß er unter den frühen Devotees der Pionier war, der den Weg zur Lebensweise der Entsagung bahnte. Er war der erste, der Ma‘s Anweisungen befolgte, anstatt sich damit zu begnügen, in ihrer Nähe zu sein und darin Erfüllung zu finden. Übrigens wurden Didi und ihr Vater schon nach sechs Wochen nach Dacca zurückgerufen. Die recht kleine, erausgehobene Schar derer, die Ma vorbehaltlos gehorchten, empfand immer, daß sie überaus gütig zu ihr war.
       Immer mehr Menschen kamen in Shahbagh zusammen. Da Ma und Bholanath keine privaten Besuche machten, fand man eine andere Methode, sie zu sich nach Hause zu bringen, die ihr ganzes Leben lang anwendbar blieb. Man arrangierte religiöse Feiern, einen Kirtan oder eine Puja, zu denen man Bholanath und Ma einladen konnte. Wo immer Ma hinging, folgte ihr eine Menschenmenge, ob sie eingeladen war oder nicht. Darauf gab es unterschiedliche Reaktionen. Manche fühlten sich geehrt und privilegiert, daß ihr Haus wolldurch den ›Staub von den Füßen der Devotees‹ (Bhakta-padarenu) gereinigt wurde. Andere ärgerte die Vorstellung, eine unwillkommene Menge könne ihren Garten zertrampeln und sich ganz daheim fühlen, wo immer Ma gerade war. Selbst Frauen aus konservativen Familien begleiteten sie ohne Einschränkung überall hin. Männer, die sich nicht hatten vorstellen können, einer ›heiligen Frau‹ hinterherzulaufen, beneideten nun ihre Frauen, Schwestern und Töchter, wenn diese Ma umringten, während sie selbst nur von fern einen Blick auf sie werfen konnten. Die Devotees von Dacca konnten sich keine Zukunft vorstellen, in der Ma nicht wie die Schutzgöttin der Stadt in Shahbagh residieren würde. Sie sollten noch erfahren, daß Ma sich nirgendwo auf Dauer niederlassen würde, wenngleich sie überall vollkommen heimisch war.

Eines Abends im Juli 1927 besuchte Ma aus eigener Initiative eine Anzahl Häuser in der Stadt. Ihr Verhalten ließ Didi, ihren Vater, Bhaiji und andere befürchten, daß es sich um Abschiedsbesuche handelte, und daß sie Dacca wieder verlassen werde. Diese Ahnung bestätigte sich. Am nächsten Tag waren Ma und Bholanath abgereist, noch bevor einer der Devotees nach Shahbagh gekommen war. Ma fuhr nach Rajshahi, Narayanganj, Calcutta, Deoghar und Vindhyachala. Es war ihr erster Aufenthalt in diesem ruhigen, auf einem Hügel gelegenen Ort, der später eine ihrer bevorzugten Stationen werden sollte. Sie kehrte nach Dacca zurück, reiste aber schon bald wieder ab, diesmal in ihre Heimatdörfer Vidyakut und Kheora. Am 3. August 1927 kam sie in Kheora an, begleitet von einer großen Schar von Devotees, die ihren Geburtsort sehen  wollten. Ma‘s Geburtshaus gehörte nun einer Moslemfamilie. Die Devotees baten Didima, ihnen die genaue Stelle zu zeigen, an der Ma geboren wurde, aber alles hatte sich so stark verändert, daß Didi-ma verwirrt war. Ma spazierte umher und unterhielt sich mit den Dorfbewohnern. Sie ging um das Haus herum und blieb an einer Stelle stehen, wo Kuhdung aufgehäuft war. Sie hob ein wenig Erde an dieser Stelle auf und begann ganz unerwartet, laut zu weinen wie ein Kind. Didima erkannte nun die Stelle wieder und erklärte mit Bestimmtheit, hier sei die Hütte gewesen, in der Ma vor über dreißig Jahren zur Welt kam. Bholanath war bestürzt, Ma weinen zu sehen und wollte sogleich fortgehen, doch Ma wischte ihre Tränen ab und rief den Hausherrn. Sie sagte zu ihm: »Es wäre gut für euch alle, wenn ihr diese Stelle nur zum Gebet und zur Meditation benutzt.« Dazu war er gern bereit. Shashanka Mohan wollte ihm Geld anbieten, um die Stelle damit gut in Ordnung zu halten, vielleicht eine Plattform darüber zu bauen. Aber der Hausbesitzer lehnte ab. Er werde selbst das Nötige tun. Es war ein kurzer Besuch; nur wenige Leute konnten mit Ma zusammentreffen, aber sie stattete Kheora in späteren Jahren längere Besuche ab.
       Die Gesellschaft fuhr dann nach Vidyakut weiter, wo sie ein paar Tage bei Ma‘s Verwandten zu Gast war. Am Tag der Abreise faßte Ma einen ihrer Vettern am Arm und weinte laut wie eine junge Frau, die ihr Elternhaus verläßt, um zu ihrem Ehemann zu ziehen. Der Cousin legte ihr seine Hand auf den Kopf und sprach aufmunternde Worte. Didi und die anderen Devotees aus Dacca waren belustigt und bezaubert, Ma in der Rolle eines verheirateten Dorfmädchens zu sehen, das Abschied von zu Hause nimmt.
       Ma blieb nicht mehr für längere Zeit in Dacca. Sie machte kurze Reisen nach Calcutta oder in andere Städte und Dörfer im Umland. Oft nahm sie viele Verwandte dazu mit, Tanten, Vettern und Kusinen, Neffen, Verwandte Bholanaths und ältere Leute, die mit ihr reisen wollten. So konnten Leute, die sonst nie herumgekommen wären, interessante Orte kennenlernen und auf Pilgerschaft gehen.
       Mittlerweile verfiel die über die Plattform gebaute Lehmhütte in Siddheshwari. Shashanka Mohan machte den Vorschlag, ein dauerhafteres Gebäude zu errichten. Ma antwortete: »Ich weiß, daß ihr die Heiligkeit des ›Hohlraums‹ in Zukunft nicht bewahren könnt. Nun gut, die Dinge müssen ihren Lauf nehmen. Wenn ihr ein festes Haus bauen wollt, dann vermauert den Hohlraum mit Ziegeln und baut eine Plattform darüber, so daß niemand versehentlich darauf treten kann.« Alle Devotees wollten sich an den Baukosten beteiligen. So kann das kleine Haus mit nur einem Raum, das Anfang 1928 in Siddheshwari entstand, als der erste Ashram bezeichnet werden.