Shakti offenbart sich als Sadhana

Wir müssen uns klarmachen, daß Shri Anandamayi Ma ganz aus sich selbst heraus umfassendes Wissen über spirituelle Übungen für das religiöse Leben besaß. Niemand hatte sie ausgebildet oder in irgendeiner Weise instruiert. Sie hatte sich nie von ihrer Familie getrennt, um als Einsiedlerin in der Abgeschiedenheit religiöse Glückseligkeit zu suchen. Sie hatte nicht aus Büchern studiert und keine Vorträge gehört. Alles, was sie sagte und tat, kam von innen wie der Klang einer angeschlagenen Glocke. Diesen Vergleich benutzte Ma bisweilen, um zu veranschaulichen, wie sie auf Menschen einging, die bei ihr spirituelle Führung suchten. Manchen gab sie kurze Antworten, anderen sehr ausführliche; ihre Antworten waren so vielfältig und von solcher Bandbreite, daß eine verkürzte Darstellung unmöglich ist. Ma sagte: »Dieser Körper ist wie ein Instrument, ihr hört die Melodie, die ihr darauf anschlagen könnt.«
       In einer Phase ihres Lebens ging sie jedoch den Weg des Sadhaka, eines ganz der Wahrheitssuche geweihten Pilgers. Sie berichtete, wie es begann: »Eines Tages ging ich wie jeden Tag in Bajitpur zu einem nahegelegenen Teich, um dort zu baden. Während ich mir Wasser über den Kopf goß, kam mir das Kheyala ›Wie es wohl wäre, sich einem Sadhana-Lila [Spiel spiritueller Übungen] zu widmen?‹, und so fing es an.«
       Bajitpur wurde zu einem bedeutsamen Ort für alle, die danach streben, über ihre vorgegebenen äußeren Umstände hinaus in das Reich der Gnade zu blicken, von der die heiligen Schriften aller Religionen sprechen. In der kurzen Periode von knapp sechs Jahren erlebte Ma die Erfüllung dieser Verheißung an alle Pilger, die den messerscharfen Pfad der Wahrheitssuche zu betreten wagen. Rückblickend erkennen wir, daß Ma damals ihrem Körper still und unauffällig erlaubte, zum Spielfeld der Shakti zu werden, die alle Dinge in dieser und der jenseitigen Welt erzeugt, aufrechterhält und wieder in sich zurücknimmt. Es gab kein Aufsehen, keine staunenden Zuschauer (außer Bholanath) und keinerlei Anzeichen auf ein außerordentliches Geschehen, das später große Gelehrte und berühmte Asketen in unserem Land erstaunen und stundenlang in Bann schlagen würde, wenn sie Ma‘s Ausführungen über die innersten Erfahrungen eines Sadhaka auf der Suche nach jenem höchsten Wissen zuhörten, das - einmal erlangt - auch alles andere augenblicklich greifbar werden läßt.
       Die Pilgerschaft begann sehr einfach. Ma hat des öfteren wiederholt: »Der Name allein genügt (zum Sadhana). « Und diese Wahrheit demonstrierte sie uns in Bajitpur.

Sie hatte das Kheyala, Sadhana auszuüben. Zunächst tat sie dasselbe, was sie ihre Mutter und roßmutter bei ihren bendlichen Riten hatte tun sehen. Sie fegte und reinigte ihr ohnehin sehr sauberes Zimmer, zündete Räucherstäbchen an und ging damit ums Haus. Die Abendluft füllte sich mit dem reinen Duft von Sandelholz. Wenn Bholanath von seiner Arbeit heimkam und sich ein wenig ausgeruht hatte, servierte sie ihm das Abendessen. Sie bereitete ihm auch die Wasserpfeife für seine Mußestunde nach dem Abendessen vor! Dann fragte sie ihn, ob sie eine Zeitlang Nama-Japa ausüben dürfe, womit er völlig einverstanden war, war er doch gewohnt, ihr selten geäußertes Kheyala stets zu respektieren.
      Darauf setzte sich Ma in eine Ecke des Zimmers und begann, leise den Namen ›Hari, Hari‹ zu wiederholen, den sie in ihrer Kindheit zusammen mit ihrem Vater zusingen gelernt hatte. Sehr bald sah Bholanath, wie sie eine Yoga-Haltung einnahm, aufrecht sitzend, mit geschlossenen Augen und einem verinnerlichten Gesichtsausdruck. Jeden Tag schien sich ihre Konzentration weiter zu vertiefen. Nach einigen Stunden löste sie sich allmählich aus dieser Meditationsstellung, stand dann langsam auf, aß manchmal ein wenig und legte sich zu Bett. Viele Monate lang nahm sie außer dieser leichten Mahlzeit zu Mitternacht oder noch später den ganzen Tag keine andere Nahrung zu sich. Sie lebte ständig in einer Art weltentrückter Glückseligkeit, wobei sie ihre Hausarbeit fast automatisch verrichtete.
      Nachdem sie diesen Rhythmus ein paar Tage beibehalten hatte, fragte Bholanath sie ein wenig besorgt: »Warum nimmst du den Namen ›Hari‹? Wir sind keine Vaish-navas, wir sind Shaktas.« »
      Soll ich dann ›Shiva, Shiva‹ sagen?« »Ja, das ist in Ordnung.«
      Ma wiederholte von nun an den Namen ›Shiva‹. Diese kleine Begebenheit läßt das ganze Ausmaß ihres Sadhana und das umfassende Erfahrungswissen erahnen, auf das sie später zurückgreifen konnte, wenn sie über die eine und einzige Wirklichkeit sprach. Sie sagte, wenn sie ›Hari‹ aussprach, so meditierte sie ausschließlich mit dem Klang des Wortes. Sie hatte kein inneres Bild einer Gestalt. Ebenso war es mit ›Shiva‹. Der Klang dieser heiligen Worte offenbarte ihr die Einheit aller solcher Klangformen und ihre Bedeutung als Wegweiser zur alleinigen Wirklichkeit, die allen Namen und Formen zugrundeliegt.
      Mehrere Monate lang praktizierte Ma ihr Sadhana. Ihr Körper wurde gleichsam ein Instrument für diese tiefgründige Musik. Mit dem Klang der Laute bewegten sich ihre Glieder, ihr ganzer Leib, wie in schwungvollen Tanzfiguren; sie reagierte mit höchster Sensibilität auf die beschwingende Choreographie der inneren Shakti. Während sie meditierend auf dem Boden saß, nahm ihr Körper verschiedene Yoga-Stellungen mit den exakt richtigen Hand- und Fingerhaltungen ein. Bholanath beobachtete sie mit ehrfürchtigem Staunen. Einige der Asanas [Yoga-Stellungen] kannte er, andere waren ihm völlig fremd. Manchmal sah er ihr zu, fasziniert von dem schönen Anblick, und manchmal überkam ihn nach einem langen Arbeitstag die Müdigkeit; dann schlief er ein, ährend Ma in eine andere Welt versunken in ihrer Ecke saß. Er wußte, daß Ma keine Vorkenntnisse über Yoga-Asanas besaß. Ihm war auch klar, daß sie die Bewegungen spontan ausführte, als würden ihre Glieder in diese Positionen geführt. Ma selbst sagte, sie sei bei diesen Vorgängen eine bloße Zeugin gewesen.
      Dieses Lila blieb jedoch nicht unbemerkt. Ein paar Neugierige spähten bei Tag durch den Zaun. Zwar übte Ma ihr Sadhana nachts aus, aber am Morgen befand sie sich in einem so erhobenen Bewußtseinszustand, daß sie distanziert und unnahbar schien. Allmählich mieden ihre Freundinnen die vormals so beliebte junge Frau von nebenan. Man hatte Angst vor ihr, meinte gar, sie sei von bösen Geistern besessen. Die Aufgeklärteren glaubten, sie litte an einer Art Hysterie. Ma ihrerseits war die plötzliche Stille nur willkommen. Sie kam ihr zu dieser Zeit gerade recht, denn ein Sadhaka muß allein sein. Nur zwei Freunde blieben ihr treu. Der eine war ein Dienstmädchen; als sie merkte, daß ihre junge Herrin die Hausarbeit nicht mehr so flink und geschickt wie gewöhnlich ausführen konnte, tat sie weit mehr, als eigentlich ihre Pflicht war. Wenn sie Ma in einem Zustand des Samadhi liegen sah, verrichtete sie schnell die ganze Arbeit. Der andere Freund war ein Hund namens Toma. Bholanath hatte ihn als Welpen mitgebracht, und Ma hatte ihn mit ihrer üblichen liebevollen Fürsorge für Tiere aufgezogen. Wenn sie allein im Haus war, saß oder lag er nahe bei ihr und hielt Wache. Wenn Ma nach dem Kochen nicht dazu gekommen war, das Essen sicher zu verstauen oder abzudecken, rührte er nie etwas davon an. Manchmal überkam sie sogar beim Kochen eine Welle von Seligkeit; sie rollte dann in tiefer Trance über den Boden. Toma hielt Wache, bis Bholanath von seinem Büro zurückkam.
      Obwohl Bholanath vollkommen überzeugt war, daß alles, was mit Ma geschah, tiefe spirituelle Bedeutung besaß und nicht etwa inszeniert war, überkamen ihn doch hin und wieder gewisse Zweifel, denn nach allgemeiner Überzeugung war auf spirituellem Gebiet nichts ohne die Hilfe eines Guru zu erreichen. Vielleicht als Reaktion auf diese Zweifel hatte Ma das Kheyala, spirituell eingeweiht zu werden, was sich am 3. August 1922 erfüllte.

Äußerlich geschah nichts. Wie ewöhnlich bereitete Ma an diesem Abend das Essen zu und servierte Bholanath sowie seinem Neffen Ashu und ihrem eigenen Cousin Nishikanta, die bei ihnen zu Besuch waren, die Mahlzeit. Am frühen Abend waren ihre Nachbarinnen gekommen, um sie zu einem Spaziergang zu den in dieser Nacht des Rakhi-Purnima [August-Vollmond] festlich geschmückten Tempeln einzuladen. Sie hatte die Einladung abgelehnt. Als sie diese Ereignisse viele Jahre später erzählte, konnte man das Datum erschließen, da Rakhi-Purnima im Jahr 1922 auf den 3. August fiel. Machdem ihre Angehörigen zu Bett gegangen waren, setzte sie sich zum täglichen Sadhana in ihre Ecke. Nach einiger Zeit sah sie, wie ihr Finger ein mystisches Diagramm (Yantra) auf den Boden zeichnete. Sie selbst wurde zum Guru. Eine mystische Silbe (Bija-Mantra) stieg in ihr Bewußtsein auf; sie sah sich selbst dieses Mantra in das Diagramm auf dem Boden schreiben. Nun wurde sie zur Schülerin und empfing das Mantra sozusagen von sich selbst als Guru. Die Einheit von Guru, Schülerin und Mantra war unmißverständlich, blieb der Außenwelt aber noch verborgen, während sie das Japa-Sadhana nun mit diesem Mantra aufnahm, statt mit den Namen, den sie früher wiederholt hatte.
      Ma erläuterte die Bedeutung der Initiation später folgendermaßen: »Angenommen, ihr wollt jemanden, der weit entfernt ist, auf euch aufmerksam machen, dann ruft ihr ihm irgendetwas zu wie ›hallo!‹ oder ›Sie da!‹ Er antwortet: ›Sie möchten mit mir sprechen. Mein Name ist soundso.‹ Dann wißt ihr genau, wie ihr ihn zu rufen habt. So ist es mit der Diksha [Initiation]. Der Guru ist immer Gott selbst!«

Für die nächsten fünf Monate nahm ihr Sadhana eine konkretere Form an. Nach der spirituellen Einweihung strömten ihr manchmal hymnenartige Verse in Sanskrit über die Lippen, denen meist die Silbe ›OM‹ vorausging. Es war offenkundig, daß diese Aussprüche ohne ihr eigenes Zutun kamen, denn sie hatte nie Sanskrit gelernt, geschweige Shakti offenbart sich als Sadhana denn dessen altertümliche vedische Form. In dieser Zeit waren ihre normalen Körperfunktionen stundenlang, manchmal tagelang aufgehoben. Sie war weder hungrig noch ruhebedürftig. Ihre Tage gliederten sich nicht mehr in Vormittag, Nachmittag, Abend und Nacht - es gab nur noch eine fortdauernde unbeschreibliche Glückseligkeit.

Sie sagte, sie habe im Mund den Geschmack einer von innen kommenden honigsüßen Substanz gehabt, die manchmal so reichlich strömte, daß sie sie hinunterschluckte, ohne daß sie wie andere Süßigkeiten einen unangenehmen Nachgeschmack in ihrem Mund hinterlassen hätte. Manchmal spürte sie, daß ihr Körper leicht wurde wie eine Feder und sich vom Boden löste, oder daß er so schwer und fest wurde wie ein Fels. In dieser Phase konnte Ma sich nicht wie gewohnt um den Haushalt kümmern. Manchmal mußte Bholanath kochen und für sie sorgen, so gut er konnte.
      Ma‘s Cousin Nishikanta Bhattacharya war bei ihnen zu Besuch. Er war schockiert, wie sehr sie sich auf religiöse Übungen konzentrierte und mit welcher Nachsicht Bholanath dies hinnahm. Bholanath seinerseits war froh, mit seinem wesentlich älteren und gelehrten Schwager über diese Angelegenheit sprechen zu können. Sie spielten gewöhnlich eine Partie Schach nach dem Mittagessen. Nach dem Spiel ging Bholanath wieder in sein Büro. Eines Tages - es war wohl am vierten Tag nach der Einweihung - betraten sie, statt wie sonst Schach zu spielen, das Zimmer, in dem Ma saß, erfüllt von Glückseligkeit und umstrahlt von ihrer Aura inneren Lichts. Ihr Cousin hatte offenbar beschloßen, ihr Vorwürfe zu machen. Zu Bholanath sagte er nun mit rauher Stimme: »Warum fragst du sie nicht, was sie da tut?«
      Normalerweise zollte Ma ihm den Respekt, der ihm als älteren Bruder gebührte, aber heute schaute sie ihm gerade ins Gesicht und fragte in ungewohnter Schärfe: »Was willst du wissen?« Nishikanta erschrak. Unwillkürlich legte er seine Hände zu einer unüblichen Demutsgeste zusammen. Dann sagte Ma in milderem Ton: »Hab keine Angst. Was ist los?« »
      Warum praktizierst du alle diese Kriyas? Bist du ins spirituelle Leben eingeweiht orden?«
      »Ja.«
      »Ist Ramani [Bholanath] auch eingeweiht worden?«
      »Nein, aber in fünf Monaten wird er initiiert.« Ma nannte das genaue Datum sowie den an diesem Tag regierenden Planeten.
      »Ich verstehe nich, was du mit dem Planeten meinst.«
      »Geh und frage Janaki Sen. Er ist beim Fischen am Teich.«
      »Warum sprichst du so unnatürlich mit uns?«
      »Das kommt dir nur so vor. Ich bin dieselbe wie immer.«
      Bholanath und Nishikanta waren zutiefst verstört. Sie holten Janaki Sen am Teich ab. Sie fragten sich nicht einmal, wie Ma überhaupt wissen konnte, wo er war, zumal er zu dieser Zeit im Büro hätte sein müssen. Janaki Sen hatte Ma nie zuvor ohne ihren geziemend vors Gesicht gezogenen Schleier gesehen. Auch er staunte über ihre Ausstrahlung einer machtvollen göttlichen Persönlichkeit. Nach einigen Fragen, die Ma schnell beantwortete, sagte Janaki Sen: »Wer bist du?« Auf diese Frage, die Nishikanta ihr schon früher gestellt hatte, gab sie wieder dieselbe Antwort: »Purna Brahma Narayana« [das Höchste SEIN]. Janaki Sen rief aus: »Du bist der Teufel, der Teufel!« Ma schien belustigt und sagte: »Du willst mich wohl prüfen, nicht wahr?«
      »Ja! Wenn du irgendwelche spirituellen Kräfte hast, dann gib uns einen Beweis!«
      Ma bedeutete Bholanath, sich neben sie zu setzen. Dann berührte sie leicht seinen Kopf. Augenblicklich schien er in tiefer Meditation zu versinken. Er wurde vollkommen still; sein Gesicht strahlte heitere Ruhe aus. Seine Freunde waren verblüfft. Wahrscheinlich hatten sie irgendwelche Wunder erwartet; Es ging über ihren Horizont, daß das Geschenk eines Samadhi durch bloße Handberührung nur mit göttlicher Gnade möglich ist. Samadhi ist der von Sadhakas aller Zeitalter ersehnte Zustand; sie widmen ihr ganzes Leben strengen spirituellen Übungen in der Hoffnung, daß sie in Samadhi münden; und hier bekam Bholanath die Glückseligkeit dieses höchsten Ziels geschenkt! Sie begriffen nicht, daß Ma getan hatte, was sie von ihr verlangt hatten.
      Dieser Ablauf wurde von Gelehrten später rekonstruiert. Damals herrschte allgemeine Verwirrung. Nishikanta und Janaki Sen waren verängstigt. Als Bholanaths Neffe Ashu aus der Schule kam, war er bestürzt, daß seine Tante irgendwie verändert aussah, und daß sein Onkel reglos auf dem Boden saß, als sei er nicht von dieser Welt. Er begann zu weinen. Die beiden Männer baten Ma nun, Bholanath in seinen Normalzustand zurückzurufen. Mehr um Ashu zu beruhigen als um ihrer Bitte willen berührte Ma Bholanath abermals sanft. Langsam erwachte er aus seinem Samadhi. Befragt, was er erlebt habe, sagte er mühsam um Worte ringend, er habe nie eine solche Glückseligkeit, solch unbeschreibliche Freude und Frieden erfahren. Für Ma war die Zeit, sich zu offenbaren, noch nicht gekommen, daher konnte dieses Zwischenspiel allmählich im Gedächtnis der Beteiligten versinken. Allerdings verstummten nun die Zweifel an Ma. Nachbarn und Freunde hielten sie für außergewöhnlich begabt und von religiöser Leidenschaft ergriffen. Sie verursachte jedoch kein Aufsehen in der Umgebung, weil sie sich weiterhin unauffällig und normal verhielt. Dazu trug in hohem Maße ihr bezauberndes Lächeln bei, das Zweifel sofort zerstreute und eine unwiderstehliche Anziehung ausübte. Es kam also nicht zu drastischen Veränderungen in Ma‘s Umgebung, nachdem sie ein wenig von ihrem sonst immer wohlverborgenen Reichtum vorgeführt hatte. Sie setzte ihr Sadhana fort, und an dem Tag, den sie genannt hatte, initiierte sie Bholanath.