Vorwort


Esha ha devah pradishonu sarvah, purvo hi jatah sa u garbhe antahsa eva jatah sa janishyamanah, pratyanjanams tishthati sarvatomukhah.

Shvetashvatara Upanishad II, 16

»Dies ist der Gott, der alle Himmelsrichtungen erfüllt, Er ist geboren und Er ist im Schoß verborgen. Er ist geboren und wird geboren werden! Er steht allen Menschen gegenüber und schaut in alle Richtungen.«

Man hört oft, und nicht ohne gewisse Berechtigung, Indien sei ein Land der Heiligen und Gottsucher. In der Tat könnte man viele spirituelle Lehrer aufzählen, die in den vergangenen Jahrzehnten weltweites Ansehen erlangt haben. Es wäre aber falsch, Shri Anandamayi Ma in diese Reihe zu stellen. Zwar nahm sie als Bewahrerin der indischen Traditionen eine hohe Autoritätsstellung ein, doch diese fiel ihr allein durch ihre Lebenspraxis zu. Sie verkündete keine eigene Philosophie und gab auch keine Botschaften für die Menschheit aus, außer der einen vielfach variierten Vani [Äußerung]: hari kathai katha arsab vritha vyatha (Allein von Gott zu sprechen ist der Mühe wert, alles andere ist leidvoll und vergebens.) Sie versprach nichts, und wenn sie nicht ausdrücklich gefragt wurde, hatte sie nichts mitzuteilen. Dennoch zog sie, wo immer sie gerade war, durch ihre Ausstrahlung überragender Spiritualität Menschen an. Die Besucher waren fasziniert von ihrem unvergleichlich bezaubernden Lächeln und den teilnahmsvollen Fragen nach ihrem Wohlergehen. Dies spielte sich tausendfach in großen Städten und Dörfern, in Herbergen am Straßenrand, in Tempel-Vorhallen wie in den Häusern ihrer Anhänger ab. Fremde, die ihr auf Straßen oder Bergpfaden begegneten, blieben manchmal stehen, um sich nach ihr umzublicken, und setzten dann ihren Weg fort, als hätten sie eine lang verlorene Freundin wiedergefunden. Shri Ma grüßte alle Fremden, die der Zufall zu ihr führte, mit der ihr eigenen unnachahmlichen Selbstverständlichkeit, die sogleich alle Schranken von Sprache, Konfession und sozialem Rang vergessen ließ.
      Nachdem sie 1932 Dacca verlassen hatte, kam sie ins mehr als 1600 km entfernte Dehra Dun in Nordindien. In kürzester Zeit scharten sich zahlreiche Menschen um sie, die ihre Sprache nicht verstanden. Einmal fragte ich Mahalakshmi, die zu diesem Kreis früher Devotees gehörte: »Wie kam es, daß du, deine Familie, eure Freunde und eure ganze Gemeinschaft sich so eng an Ma anschlossen? Ihr saht doch nur eine junge verheiratete Frau, begleitet von Bhaiji, den ihr zunächst für einen Diener hieltet. Die beiden hatten sich wie arme Pilger auf der offenen Veranda eines Tempels niedergelassen. Sie kannte eure Sprache nicht, also konntet ihr euch nicht direkt mit ihr verständigen. Sie zeigte euch keine Wunder oder übernatürlichen Fähigkeiten. Worin lag also das Geheimnis, das die große, wohlhabende und gebildete Gemeinde der Kashmiris in dieser weitläufigen Stadt dazu brachte, sich zu ihren Füßen versammeln?«
      Mahalakshmi reagierte ungehalten auf eine so absurde Frage: »Sei doch nicht dumm«, sagte sie, »welches Wunder hätte sie uns denn zeigen sollen? Sie selbst war das größte Wunder! Sie anzuschauen und bei ihr zu sitzen - darin lag schon die Erfüllung.« Wäre Mahalakshmi eine Kennerin der heiligen Schriften gewesen, dann hätte sie folgende Teststelle aus der Mundaka Upanishad II, 2, 9 zitieren können:


Bhidyate hridaya grantish ca cchidyante sarva samshayah,
kshhiyante casya karmani tasmin drishte paravare.

»Wenn man IHN schaut im Höchsten und im Tiefsten, werden die
Knoten des Herzens zertrennt, alle Zweifel gelöst und die Bindung an die
Werke vernichtet.«

Dies wiederholte sich vielmals. In Gujarat, in Südindien, im Punjab - nirgends fiel es den Menschen schwer, direkten Kontakt zu ihr zu finden. Die neuen Verehrer wußten anfangs nichts über ihr frühes Leben, ihre Jahre der Hausarbeit und des Sadhana. Sie wußten nicht, was Ma ihnen zu sagen gehabt hätte, wenn sie ihre Sprachen hätte sprechen können. Auch für sie war ihre bloße Gegenwart schon ›Erfüllung‹.
      Die Göttin Kali ist den Menschen in Bengalen besonders lieb, daher
war Ma in Dacca, wo sie zuerst öffentliche Bekanntheit erlangte, als Manush
Kali gefeiert worden, als Kali in menschlicher Gestalt. Auf Reisen in Südindien wurde sie bei jedem Aufenthalt sogleich von Menschenmengen umringt. Eine ihrer Begleiterinnen war so wissbegierig, einige Leute in Madurai zu fragen, weshalb sie einer Frau, die nichts für sie tat, als ihnen ihr unnachahmliches Lächeln zu schenken und mit ihnen Kirtan zu singen (he Bhagavan), derartige Verehrung erwiesen. Die Antwort war einfach. Für sie war Ma die sichtbare Form ihrer Göttin Minakshi im Inneren des Tempels, und es genügte ihnen, ihren Darshan zu erlangen [sie zu sehen]. In Hoshiarpur im Punjab gaben ihre Anhänger unter den Sikhs ihr denselben Ehrenplatz wie ihrem heiligen Buch, dem Guru Granth Sahib.
      Statt weitere Beispiele dieser Art anzuführen, ist es hier wohl angebracht, sich den Hintergrund der indischen Religiosität bewußt zu machen, die ein solches Verhalten begünstigt. Gott hat viele - besser gesagt, unendliche - Namen und Formen. In den heiligen Schriften ist der gebräuchlichste Allgemeinbegriff für Gott sat-chit-ananda [Sein-Bewußtsein-Glückseligkeit]. Ohne ihn ausführlich zu erläutern sei gesagt, daß er die Aussage der Upanishaden über das Brahman oder die höchste Wirklichkeit in persönlicher Form ist. In Indien glaubt man, daß Gott nicht nur jederzeit in allen Dingen gegenwärtig ist, sondern das er auch Anrufungen und Gebete erhört. Religiöse Schriften aller Art betonen vielfach, daß das Transzendente und das Immanente einander wechselseitig durchdringen. Der seinem Wesen nach ohne Gestalt ist, nimmt zahllose Formen an, damit seine Verehrer zu seinen Füßen Zuflucht finden können. Er ist nicht von seiner Schöpfung getrennt, sondern immer in ihr gegenwärtig. Die spirituellen Sehnsüchte der Menschen auf der Suche nach Gott verbinden sich miteinander und formen sich zu verschiedenen Bildern, die von Künstlern in vielfältigen Materialien ausgestaltet werden können - in Holz, Metall, Ton, Stein, auf Papier oder Leinwand. Die vielen Bilder sind daher nicht viele Götter, sondern verschiedene Formen derselben höchsten Wirklichkeit - des sat-chit-ananda. Dies erklärt die enorme Vermehrung der Bilder in unserer Zeit. Die alten Tempel bleiben jedoch ihren eigenen Traditionen treu und halten sich strikt an die entsprechenden heiligen Schriften.
      Diese Art der Hinwendung zu Gott ist typisch für den Hinduismus. Shri Anandamayi Ma verglich sie manchmal mit den verschiedenen Rollen, die ein Mensch in der Welt zu spielen hat. Derselbe Mann ist Vater, Sohn, Freund, Ehemann, Vorgesetzter und Untergebener usw. Ein Sohn kennt die vielfältigen Einbindungen seines Vaters, aber seine eigene Bindung an ihn hat die Form der ganz besonderen Beziehung von Sohn zu Vater.
      Dieses Element einer persönlichen Bindung an Gott als Vater, Mutter, Freund, Kind, Geliebter oder Meister macht die Bedeutung des Begriffs Ishta-Devata aus. Ishta bedeutet ›auf höchste ersehnt‹ und Devata bezeichnet das besondere Bild Gottes, das den Verehrer zu größter Bemühung um spirituelle Befreiung anspornt. Das dem Herzen eines Menschen liebste Gottesbild - Ishta-Devata - ist sein persönlicher Schlüssel zum Geheimnis des kosmischen göttlichen Panoramas, das er zu lösen sucht. Alle, die denselben Ishta-Devata verehren, bilden eine Bruderschaft, einen Sampradaya. Daher gibt es den Vaishnava-Sampradaya und den Shaiva-Sampradaya, die Shaktas, Ganapatyas usw. Sie verehren Gott auf unterschiedliche Weise, ohne im Widerspruch zueinander zu stehen. Ein Dichter hat dieser Empfindung Ausdruck gegeben:


Maheshware va jagatamadhishvare Janardane va jagadantaratmani
dvayorna bheda pratipattirasti me tathapi bhaktistarunendushekhare.

(Aus Bhartriharis Vairagya Shataka)

»Ich glaube daran, daß es zwischen Shiva, dem Herrn des Universums, und Narayana, dem ihm innewohnenden Geist der Schöpfung, keinen Unterschied gibt. Dennoch richtet sich meine Verehrung auf Ihn, der in seiner Haarkrone die Mondsichel trägt (Shiva).«

Den Hindus ist daher die Vielfalt der Möglichkeiten, in Beziehung zu Gott zu treten, angenehm. Sie erscheint ihnen als Bereicherung. Selbst erklärten Widersachern Gottes wird der Rang großer Gottesverehrer zugestanden, denn durch die bloße Kraft ihrer auf ein einziges Ziel gerichteten Konzentration erreichen sie das Ziel womöglich sogar früher als die Freunde Gottes. Die religiösen Schriften führen dieses Thema in vielen Variationen vor.
      Ein Buch über Shri Anandamayi Ma muß daher das ganze Spektrum der hinduistischen Weltsicht einbeziehen und schließlich darüber hinausgehen, denn ihre Freiheit, sie selbst zu sein, läßt sich in keinen Rahmen religiöser Überzeugungen pressen. Man muß ihre oft wiederholten Worte im Sinn behalten: »Ich bin, was ihr glaubt, das ich sei.« Mit diesen Worten schuf sie sich ohne Ansehen von Religion, Nation, Alter und Geschlecht in jedem Herzen, das von ihr wußte, einen Platz.
      Dieses Buch ist seinem Wesen nach also eine Einladung zum Satsang. Darunter versteht man eine Versammlung Gleichgesinnter, die gelegentlich zusammenkommen, um die Lila-Katha der von ihnen besonders verehrten göttlichen Person zuzuhören. Lila-Katha ist eine beschreibende Erzählung, eine beglückende Wiedergabe der Taten und Erlebnisse der Gottheit, die im Mittelpunkt des Satsang steht. Da alle Wege zum Ziel führen, ist Missionierung nicht das Ziel des Vortragenden. Der Vortrag kann jedoch so faszinierend sein, daß er auch die Aufmerksamkeit zufälliger Passanten auf sich zieht. Satsang dient der Stärkung einer auf das Göttliche ausgerichteten Lebensweise; einer gemeinsam erlebten Freude im Glauben, daß Gott immer nahe ist, und manchmal kann im Satsang auch ein bislang gleichgültiges Herz berührt werden.
      In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einen besonderen Satsang. Es war vor vielen Jahren in Varanasi. Eine gewaltige Menschenmenge war zusammengekommen, um sich vom Lila-Katha über Krishnas Kindheit verzaubern zu lassen. Sprecher war der hochgelehrte Mönch Swami Akhandananda aus Vrindavan. Tag für Tag lauschte ihm die Menge zwei bis drei Stunden lang mit gebannter Aufmerksamkeit. Am Ende jeder Sitzung ist es üblich, daß die Zuhörer laute Jayadhvanis [Jubelrufe] ausstoßen, wie z.B. ›Sieg sei Shri Krishna!‹ Nachdem die Menge alle üblichen Jayas begeistert ausgerufen hatte, rief sie zum Schluß im Chor das klangvolle, weithallende Hara Hara Mahadeva, Namah Parvatipataye [›Hara Hara Mahadeva, Verneigung vor dem Gemahl der Parvati‹], was in diesem Kontext zunächst wenig passend schien, bis man sich daran erinnerte, daß die Menge in Varanasi natürlich überwiegend aus Shivaiten bestand. Nachdem sie hingegeben dem Krishna-Katha zugehört hatten, bekräftigten sie wieder ihre Treue zu Shiva mit der in Varanasi üblichen uralten Grußformel.
      In diesem Verhaltensmuster liegt die ganze Stärke einer alten Tradition. Nur wer gewohnt ist, die vielen Bilder als identisch mit der einen, alleinigen Wirklichkeit zu betrachten, kann die Tiefe eines religiösen Bewußtseins ermessen, die es ermöglicht, seinem eigenen Ishta treu zu bleiben, während man einem anderen Ehre erweist. Dies ist wahrer Dialog; dem ›anderen‹ zuzuhören ist tief in der indischen Ethik verwurzelt. In Indien ist es auch möglich, daß ein mönchischer Vertreter der Vedanta-Philosophie einen Diskurs über Krishna-Katha hält.
      Dieses Buch ist daher keine Biographie. Es ist auch weder nötig noch möglich, eine Biographie von Shri Anandamayi Ma zu schreiben, da sie nicht ›aufwuchs‹ und sich zu etwas ›entwickelte‹, was sie nicht ohnehin von Geburt an war. Freilich war ihr Körper zunächst der eines Kindes und alterte im Lauf der Zeit, aber für den ihm innewohnenden Geist geschah nichts, was einen Eindruck darin hinterlassen hätte. Er war immer frei und in sich vollkommen. Wir wollen uns also die verschiedenen Facetten ihres Verhaltens ins Gedächtnis rufen, wie sie von ihr nahestehenden Menschen in den Dörfern ihrer Jugend erlebt wurden, und von anderen Devotees und Bewunderern, die in späteren Jahren mit ihr in Kontakt kamen.
      Wir wollen uns bemühen, eine Art chronologischer Folge einzuhalten, obwohl es im Falle dieses Lila-Katha genau besehen unnötig ist. Nach allem, was gesagt und geschrieben wurde, bleibe ich weiterhin genau so weit davon entfernt, die rätselhafte Persönlichkeit von Shri Anandamayi Ma zu beurteilen, wie am Tag unserer ersten Begegnung vor fast sechzig Jahren.


Möge Shri Ma‘s Kheyala sich durchsetzen. Jai Ma.


Bithika Mukherji
Mahashivaratri 1997
31, George Town, Allahabad - 211002

»Ich rühmte mich vor Leuten, ich hätte Dich gekannt. Sie sehen Deine Bilder in allen meinen Werken.

Sie kommen, mich zu fragen: ›Wer ist Er?‹

Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll: ›Wirklich, ich kann es
euch nicht sagen.‹ Sie schelten mich und gehen verächtlich weg.

Doch Du sitzt da und lächelst.

In bleibende Gesänge lege ich, was ich von Dir zu künden habe.
Das Geheimnis quillt aus meinem Herzen.

Sie kommen, fragen mich: ›Sag uns den tiefern Sinn all Deiner Lieder.‹

Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll: ›Ach, wer weiß schon,was sie eigentlich bedeuten?‹

Doch Du sitzt da und lächelst.«

Rabindranath Tagore