23. Kapitel Pradosha Vrata

Tanzender Ganesha

Alles in dieser gewaltigen Schöpfung gehorcht gewissen Gesetzmäßigkeiten. Es gibt ein wunderbares System und eine Logik hinter jeder weltlichen oder geistigen Erscheinung und jedem Vorgang. So wie die grobstofflichen Elemente und physischen Kräfte unter verschiedenen Zuständen und Bedingungen unterschiedlich wirken, so wirken und reagieren auch die subtilen und höheren Kräfte auf den inneren mystischen Ebenen sowie die rein spirituellen Prozesse wie Rituale, Gebete, Meditation usw. Deshalb gibt es genau festgelegte Anweisungen z.B. für Morgen-, Mittagsund Abendrituale. Daneben gibt es andere Bräuche, die während der verschiedenen Mondphasen durchgeführt werden, andere, wenn ein bestimmter Stern im Aszendenten steht oder bei einer besonderen Planetenverbindung.

Die Pradosha-Zeremonie wird in der Abenddämmerung des 13. Tages jeder Mondhälfte durchgeführt108. Es ist eine Anrufung Shivasmit der Bitte um Erfolg in allen Unternehmungen und die Erfüllung aller Herzenswünsche. Wenn du einen Vorgesetzten günstig stimmen möchtest, um ihn um einen Gefallen zu bitten, wartest du dann nicht auch einen Augenblick ab, wo er in guter Stimmung ist? Du suchst ihn zum Beispiel nach einem guten Essen auf, wenn er sich fröhlich und herzlich mit einem Freund unterhält. Ebenso wählt man gewöhnlich den angenehmen Aspekt einer Gottheit für ihre Verehrung und führt das entsprechende Ritual zu dem Zeitpunkt aus, den die alten Rishisals besonders wirkungsvoll erfahren haben, um die Gottheit gnädig zu stimmen. Die Pradosha-Zeremonie beruht auf einer solch subtilen Psychologie.

Pradosha
ist die Verehrung von Shiva und seiner Gemahlin Parvati, wenn sie in einer ausgesprochen zugänglichen Stimmung sind. Nachdem die Götter im Kampf mit den Dämonen wiederholt besiegt worden waren, traten die Götter an Shiva heran und baten ihn, sie mit einem Führer der himmlischen Heerscharen zu segnen. Sie kamen in der Abenddämmerung des 13. Tages nach Vollmond und fanden Shiva glücklich in Gesellschaft Seiner Gemahlin Parvati. Als die Götter ihn priesen und ehrten, erfüllte Shiva ihre flehende Bitte. Daher ist dieser Tag ein außergewöhnlich günstiger Zeitpunkt.

Im Skanda Purana109wird berichtet, wie der Weise Sandilya einer Brahmanenfrau dieses Vrata (Gelübde) empfahl. Sie kam mit zwei Knaben zu ihm, ihrem Sohn Suchivrata und einem verwaisten Prinzen namens Dharmagupta, dessen Vater in einer Schlacht getötet und dessen Königreich von Feinden besetzt worden war.

Den Rat des Weisen befolgend, führten die Frau und die beiden Jungen mit großer Ergebenheit das Pradosha Vrata aus. Nach vier Monaten, also während sie die Verehrungszeremonie das achte Mal machten, erhielt Suchivrata den Kelch mit Nektar und trank Ambrosia, den Nektar der Unsterblichkeit der Götter. Der Prinz Dharmagupta gewann die Hand einer himmlischen Prinzessin. Auf Befehl Shivas wurden Dharmaguptas Feinde mit Hilfe des Himmelskönigs persönlich getötet und Dharmagupta gewann das Königreich zurück. Später erreichte er die höchste Wohnstatt Gottes110. So leicht ist der Herr des Kailash (Berg im Himalaya, gilt als Wohnort Shivas) durch dieses Gelübde zu erfreuen.

Das Vrata besteht darin, dass man an diesem Tag fastet und nachts wach bleibt. Eine Stunde vor Sonnenuntergang badet man und vollzieht die einleitenden Verehrungsriten für Shiva und die göttliche Familie, besonders Parvati, Ganesha (elefantenköpfiger Gott, Sohn Shivas) und Skanda (Kriegsgott, Sohn Shivas). Nach der Anrufung von Ganesha wird Shiva in einem besonderen Kalasha (Kelch) angerufen, der auf eine quadratische Unterlage gestellt wird, auf welcher ein Mandala (Kreis) mit Lotusblüten dargestellt ist und das mit Darbha-Gras bedeckt ist. Danach wird die Geschichte des Pradosh Vrata vorgelesen. Anschließend wiederholt man 108 Mal das Maha Mrityunjaya-Mantra („großes lebensspendendes Mantra“, Heil- und Friedensmantra). Am Ende wird das heilige Wasser aus dem Kalasha genommen, die heilige Asche auf die Stirn aufgetragen und das heilige Wasser, welches für das rituelle Bad Gottes verwendet wurde, wird getrunken. Zum Abschluss schenkt man einem Brahmanen ein Gefäß, ein Kleidungsstück und ein Bildnis Gottes.

Wichtig ist, sich bewusst zu werden, dass zu diesem besonders günstigen Zeitpunkt alle himmlischen Heerscharen und Götter vom Himmel herabsteigen und in ihrer feinstofflichen Form an der Verehrung teilnehmen. Das gibt der Zeremonie einen besonders heiligen Charakter.

Dieses Vrata wird in den Schriften hoch gelobt und ist für Shiva-Verehrer sehr wichtig und heilig. An einem solchen Tag zerstört der bloße Anblick der Gottheit in einem Tempel alle negativen Verhaltensweisen und bringt überreichen Segen. Wird an diesem besonders günstigen Tag auch nur ein einziges Bael-Blatt (das Blatt eines Holzapfel-Baums) geopfert, gilt das so viel wie hundert Mahapujas (große Verehrungsrituale). Während des Pradosha ist es üblich, im Heilig tum zusätzliche Lichter zu entzünden. Opfert man an diesem Tag auch nur ein einziges kleines Licht, erfährt man großen materiellen und spirituellen Nutzen. Wer Pradosha Vrata ausführt, ist ausgesprochen gesegnet, denn Shiva wird ihn in kürzester Zeit mit auserwählter Gnade und Segnungen bedenken.

Hier nun die yogische Interpretation von Pradosha Vrata:
Gemäß dem Shiva-Raja-Yoga111 wird die Konzentration auf das Energiezentrum zwischen den Augenbrauen gerichtet, wo der Yogi das spirituelle Licht wahrnehmen kann, wenn er seinen Blick nach innen wendet. Er erfährt dabei verschiedene Bewusstseinszustände, nämlich Wachen, Träumen, Tiefschlaf und Überbewusstsein. Jeder dieser Zustände ist seinerseits in vier Phasen unterteilt, z.B. in Wach-Wachheit, Wach-Traum, Wach-Schlaf und Wach-Überbewusstsein. So ergeben die ersten drei Zustände insgesamt zwölf Bewusstseinsphasen. Der dreizehnte Zustand ist der des Wach-Überbewusstseins. Er entspricht dem dreizehnten Tag der zunehmenden und abnehmenden Mondphase (also dem Tag dieses Vratas).112

Die Verehrer der göttlichen Mutter Shakti (kosmische schöpferische Energie) haben eigene Glaubenssätze. Einer davon ist, dass die Göttin, wenn sie verehrt wird, jeden Tag während der Phase des zunehmenden Mondes einen Lichtstrahl erhält. So hat sie am Vollmondtag 15 Strahlen empfangen und ist nun für die abschließende Verehrung bereit, die durchgeführt wird, damit sie ihre Verehrer in jeder Beziehung segnet. Deshalb findet das Navavarana-Ritual am Tag des Vollmondes statt.

Man nimmt an, dass der Mond einen direkten Einfluss auf den Geist hat. Das Sanskritwort mati bedeutet übrigens auch beides, Mond und Geist.

Es gibt zwei (feinstoffliche) Kanäle, durch die das Prana (feinstoffliche Lebensenergie) fließt. Sie werden Ida und Pingala genannt und gelten als Kanäle für die Mondenergie (Ida) und die Sonnenenergie (Pingala). In der Mitte dazwischen befindet sich ein dritter Kanal, die Sushumna. Man soll mit Yogaübungen beginnen, wenn der Mondkanal offener ist, also wenn der Atem durch das linke Nasenloch fließt. Fließt der Atem zur Zeit der Praxis durch das rechte Nasenloch, sollte man eine besondere Übung durchführen, damit der Atem zum linken Nasenloch wechselt113.

Konzentriert sich der Yogi auf den Punkt zwischen den Augenbrauen, durchläuft er Stufe für Stufe die ersten zwölf Phasen. Der Atem fließt weiterhin durch den linken, den Mondkanal. Der „Mond“ gewinnt mehr und mehr an Kraft. Ist der 13. Tag erreicht, hat die spirituelle Kraft des Yogi entsprechend zugenommen und er ist in der Lage, das Licht zu sehen, das im Nervenzentrum zwischen den Augenbrauen erscheint. Die Ausdehnung des Atmens (in den Atemwegen in der Nase und von der Nase aus nach vorn, in den Raum, Anm. der Übersetzer) steht in einem umgekehrten Verhältnis zu der wachsenden Konzentration des Yogi.

Zu Beginn der Praxis wird der Atem (beim Ausatmen) einen Raum von ungefähr sechzehn Fingern (bzw. Zoll)114 ausfüllen. In dem Augenblick, in dem ihn die Konzentration aus dem Wachzustand in den Traumzustand geführt hat, verkürzt sich die Länge des Atems auf ungefähr zwölf Finger115. Auf diese Weise strömt der Atem bei Erreichen der dreizehnten Stufe nur noch ganz sanft aus, etwa auf die Länge von vier Fingern. Da der Atem nun nur noch innerhalb der Nasenlöcher zirkuliert, ist an der Nasenspitze kein Atem mehr zu beobachten116. Von diesem Moment an ist das Licht im Zentrum zwischen den Augenbrauen dauerhaft verankert und der Yogi verwirklicht das Ziel seiner Praxis.

Nun will ich die Übung beschreiben:
Der Yogi sitzt im Dunkeln, Kopf und Oberkörper aufgerichtet, mit offenen Augen, den Blick auf das Zentrum zwischen den Augenbrauen gerichtet. Er wiederholt gedanklich sein Mantra. Ohne den Atem anzuhalten konzentriert er sich ganz auf die Mitte zwischen den Augenbrauen und das Licht, das er dort jeden Moment zu sehen erwartet. Die daraus resultierende tiefe Konzentration führt zu folgenden positiven Ergebnissen:

Zuerst überwindet er die Ablenkungen des Geistes. Er erreicht einen Zustand, in dem es ihm erscheint, als ob jemand irgendwo in großer Entfernung spricht. Die Worte sind nicht deutlich, sondern eher eine Art Gemurmel. Da sein Geist aber anderweitig konzentriert ist, schenkt er dem keine Beachtung. Tatsächlich kommen die Laute nicht von außen, sondern sein eigener Geist bringt diese Klänge hervor. Der Geist drückt sich als Klang aus. Bald darauf hört dieser Klang wieder auf und der Yogi sieht alle möglichen Visionen wie Bilder in einem Film. Es kommt ihm vor, als wandere er – wie in einem Traum – über Berge von unterschiedlicher Schönheit, durch Meere und Seen in allen erdenklichen Farben und Formen und durch Wolken von verschiedener Färbung. Die Wolken erscheinen am Anfang dick und dunkel und allmählich verschwinden sie. Das sind sehr schöne Erlebnisse. Aber es sind nur Gedankenformen, Bilder, die vom Geist geschaffen werden, wenn er auf gestaltlicher Ebene funktioniert. Es kann in dieser Phase auch sein, dass der Yogi Musik hört wie das Spiel einer Flöte, einer Violine, von Zimbeln oder anderen Instrumenten.

Danach geht der Yogi durch eine völlig andere Erfahrung. Er erwacht plötzlich aus tiefem Schlaf. Er kann sich nicht erinnern, wann er in diesen Schlafzustand hineingekommen ist, aber er ist sich des plötzlichen Aufwachens bewusst. In Wahrheit hat er überhaupt nicht geschlafen. Sein Geist war vollständig leer, so dass er sich der Aktivität des Geistes nicht mehr bewusst war; trotzdem war der Geist die ganze Zeit tätig. Wenn er das Bewusstsein wieder erlangt, wird er sich plötzlich wieder der Tätigkeit des Geistes gewahr. Er überprüft, ob er noch gerade sitzt und sein Blick noch auf den Punkt zwischen den Augenbrauen gerichtet ist. Da er dabei keine Veränderung feststellt, erkennt er, dass der zeitweise Verlust des Bewusstseins nur eine vorübergehende Phase seiner Konzentrationsübung war.

Als nächstes kommt er in einen Zustand, wo es ihm vorkommt, als steche so etwas wie ein heißer Nagel in das Zentrum zwischen den Augenbrauen. Anfangs wird es bei dieser Wahrnehmung bleiben. Aber wenn er in seiner Praxis voranschreitet, wird darauf die Erscheinung des Lichts folgen. Auch dann gibt es verschiedene Stadien, die durchlaufen werden müssen, bevor das Licht seine eigentliche Gestalt annimmt.

Am Anfang erscheint gelbes und rotes Licht; in der Mitte das rote, umgeben von zwei gelben flammenähnlichen Lichtern. Nach einigen Tagen vergehen diese Farben und er beginnt ein beständiges Licht in Gestalt und Farbe des Mondes zu sehen. Wiederum einige Tage später wird das Licht heller und heller, vom Zwielicht bis zu einer Lichtflut, und erleuchtet allmählich den ganzen Raum, in dem der Yogi sitzt. Dennoch sieht er nichts von dem, was im Raum ist. Dafür erscheinen andere Objekte, die sich gar nicht im Raum befinden. Sie kommen und gehen mit erstaunlicher Geschwindigkeit und enthüllen ihm vieles.

Die obige Beschreibung bezieht sich auf die ersten vier von sechzehn Stufen, die im Shiva-Raja-Yoga zu absolvieren sind, bevor die endgültige Einheit mit Shiva erreicht wird. Die Einzelheiten dieser Erfahrungen sind von Mensch zu Mensch und von Tag zu Tag unterschiedlich. In der Hauptsache sind es jedoch folgende Phasen:

Zuerst wird der Yogi sich dessen bewusst, was um ihn herum geschieht. Er befindet sich im Wachteil des Wachzustandes. Danach erscheinen die Bilder im Traumteil des Wachzustandes. Das anschließende Gefühl, vom Schlaf überwältigt zu sein, tritt im Tiefschlafteil des Wachzustandes auf. Das Licht erscheint im vierten, im überbewussten Zustand des Wachzustands.

Ebenso haben der Traum- und der Tiefschlafzustand ihre vier Unterphasen, welche zu durchschreiten sind. Ist der Yogi auf der dreizehnten Stufe angekommen, befindet er sich in der Wachphase des überbewussten Zustands. Nun beginnt die Vision Shivas in Form von Bewusstsein des Selbst. Die Gestalt Shivas erscheint, als tauche sie aus dem Licht auf, das in der vierten Stufe erstmals erlebt worden war. Von dieser Stufe an verliert der Geist das Gefühl der Getrenntheit. Er wird vom inneren Selbst absorbiert.

Am dreizehnten Tag der Mondphase hilft die Natur dem Verehrer, aus dem geistigen Tiefschlaf zu erwachen und des überbewussten Zustands gewahr zu werden. Wer so am Pradosha-Tag praktiziert, erhält leicht Zugang zu dieser Erfahrung Shivas.

Eine ähnliche Bedeutung hat die Verehrung von Ganesha117 am vierten Tag nach Neu- oder Vollmond. Dies entspricht dem vierten Teil des Wachzustandes, also dem überbewussten Wachzustand, wo man erstmals die Lichterscheinungen sehen kann. Am achten Tag (Ashtami), der in Verbindung mit dem vierten Teil des Traumzustandes, also dem überbewussten Traumzustand, steht, wird Durga (weiblicher Aspekt Shivas; mütterliche Energie) verehrt. Ekadashi, der elfte Tag nach Neu- oder Vollmond, entspricht der Tiefschlafphase des Tiefschlafzustandes, wo man sich des Geistes überhaupt nicht bewusst ist. Das ist der günstigste Augenblick für einen direkten Kontakt mit Gott in uns. Wenn wir an diesem Tag fasten und beten, können wir unsere körperlichen Aktivitäten auf ein Mindestmaß herabsetzen und die Vision Gottes, der in unserem Herzen wohnt, erfahren.

Wenn wir so die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten von Festtagen untersuchen, erkennen wir, dass unsere Vorfahren bei ihrer Festlegung sorgfältig auf ein optimales Zusammenwirken von Karma118-, Jnana119- und Bhakti120-Yoga geachtet haben.

Im Sivananda Ashram in Rishikesh werden eine besondere Feuerzeremonie (Havan) und ein ausgefeiltes Ritual mit der Bitte um Gesundheit und ein langes Leben durchgeführt. Prasad (Opfergabe) von diesen Ritualen wird an spirituelle Sucher auf der ganzen Welt verschickt.

109. Schrift über Skanda = Subramanya, den Sohn Shivas und Heerführer der Götter.
110. Die Befreiung und Gottverwirklichung.
111. Yoga der Energie mit Shiva als höchstem absolutem Bewusstsein und Shakti als der schöpferischen Kundalini-Kraft.
112. Also dem 13. Tag nach Neumond und dem 13. Tag nach Vollmond.
113. D.h., damit das linke Nasenloch mehr geöffnet wird.
114. 1 Zoll = ca. 2,54 cm.
115. nach vorn, in den Raum, also beim Ausatmen
116.
Das wird auch Kevala Kumbhaka genannt, der meditative Atem, bei dem nur noch ganz wenig Luft einund ausgeatmet wird und der Atemstrom unmerklich wird und fast ganz aufhört
117.
Elefantenköpfiger Gott; Sohn Shivas; steht für die Beseitigung aller Hindernisse und Erfolg bei allen Unternehmungen.
118.
Yoga der Tat, des selbstlosen Handelns.
119. Yoga des Wissens.
120.
Yoga der Gottesverehrung und -hingabe.