93 Contenance, Coolness und Gelassenheit versus Authentizität, Emotionalität und Selbstausdruck

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Heute geht es um Contenance, Selbstbeherrschung in Spiritualität, Psychologie und Yoga. Im vorangegangen Podcast sprach  Sukadev über die Bedeutung von Psychologie und Psychotherapie. Ideal und Ziel der Psychologie und Psychotherapie ist unter anderem die Befähigung, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und Emotionen nicht hilflos ausgeliefert zu sein. In diesem Punkt können zwei Richtungen unterschieden werden: Diejenigen, die auf Kognitionen, Verstehen, bewusstem Steuern beruhen. Und diejenigen, die über Herausholen von Gefühlen, Aktivierung von Emotionen, Auflösen von emotionalen Blockaden, Befreiung von steckengebliebenen Emotionen beruhen. Die sogeannte kognitive Verhaltenstherapie beruht meist auf ersterem, Psychoanalyse, Gestalttherapie sowie die meisten Richtungen der humanistischen Psychologie auf letzterem.

Wie ist das in der Spiritualität und Religion? Auch in Religion und Spiritualität spielt diese Polarität eine nicht unwichtige Rolle. Zum einen geht es darum, Gott zu erfahren und zu erleben. Grundlage der Religion ist die religiöse Erfahrung, wie dies William James, ein amerikanischer Psychologe,  schon vor über 100 Jahren erkannt hat. Religiöse Erfahrung, spirituelle Erfahrung, mystische Erfahrung ist die intensivste Erfahrung, derer ein Mensch fähig ist. Andererseits betonen die meisten Religionen und spirituellen Richtungen die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung. Auch auf dem religiösen Gebiet gibt es die apollinischen und die dionysischen Richtungen. Im Christentum gibt es die Erweckungsbewegungen, die Born-Again-Christians, in der indischen Tradition die extremen Bhakti-Bewegungen und manche Tantra-Bewegung, in vielen schamanischen Traditionen gibt es das Rauschhafte. Viele religiöse Feste bauen auf kollektiver Emotionalität auf und nutzen dafür intensive Reize durch Musik, Farben, Gerüche, Tanzen etc. Die Gefahr ist natürlich, dass solche Exzesse in Fanatismus resultieren, dass Emotionalismus mit Spiritualität verwechselt wird und das Schwelgen in Gefühlen und Gemeinschaftsgefühlen die Gottverwirklichung ersetzt.

Auf der anderen Seite stehen spirituelle Richtungen, die Wert auf Selbstbeherrschung legen, wie z.B. die Theologie von Meister Eckhart, der Puritanismus,der Raja und Jnana Yoga. Hier besteht die Gefahr der Unterdrückung der Emotionen, einer oberflächlichen Vernunft-Religion, die innerlich hohl bleibt. Der ganzheitliche Yoga ist eher ein Sowohl-als-auch, weniger ein Entweder/Oder. Yoga will zu intensivem Erleben, zur Erfahrung des Göttlichen führen. Dazu gehört auch das Ermöglichen tiefer spiritueller Erlebnisse, Geschick im Handeln, Pflege und Gedeihen von Mitgefühl, intensiver Liebe zu Natur, Geschöpfen, Mitmenschen und Gott. Dazu gehören spirituelle Praktiken wie Musik, Tanz, ekstatischem Mantra-Singen. Dazu gehören intensive Erfahrungen im Kundalini Yoga. Das wird aber ergänzt durch Techniken für die Befreiung von automatisierten emotionsgesteuerten Reiz-Reaktions-Mechanismen, durch Übungen zur Selbstbeherrschung, Gelassenheit, ja und auch äußerer Contenance, um andere nicht zu verletzen und langfristig das Gute zu bewirken.

Auch ein spiritueller Mensch will langfristig etwas bewirken, nämlich Gottverwirklichung, Verbesserung der Welt, Verringerung von Leiden. Dazu muss er zum einen in der Lage sein, die Energie der Emotionen zu spüren. Andererseits muss er sich langfristig denken können. Auch auf dem spirituellen Weg gibt es Höhen und Tiefen. Beständig und gelassen weiter zu gehen, das ist für langfristige spirituelle Entwicklung entscheidend.

Dies ist die 93. Ausgabe des Yoga Psychologie Podcasts von und mit Sukadev Bretz, Gründer von Yoga Vidya und somit die fünfte Folge einer Reihe zum Thema Contenance, Selbstbeherrschung und Coolness.

1 Kommentar zu “93 Contenance, Coolness und Gelassenheit versus Authentizität, Emotionalität und Selbstausdruck

  1. Großartiger Vortrag, sehr interessant – vielen Dank, lieber Meister Sukadev!
    Om Namah Shivaya.

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